Aktive Kontextualisierung geschieht dann, wenn wir uns darin üben, in unsere Kultur einzutauchen.
15.10.2024
Wir in dieser Welt: Allen alles geworden
Dieser Artikel ist erstmals im Adventisten Aktuell (Ausgabe 172) erschienen.
Es ist beeindruckend, dass Jesus 30 Jahre seines Lebens einen ganz normalen Alltag hatte. Als einfaches Kind, Teenager, Jugendlicher und Erwachsener lernte er durch persönliche Erfahrungen, was Menschsein bedeutet. Im Laufe der Zeit erkannte er deutlich, wie entscheidend es ist, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, um als erwachsener Mensch den Herausforderungen des Alltags begegnen zu können. All diese Entwicklungsstadien hat er als Mensch durchlebt.
Kein Bücherwissen oder theoretisches Studium einer Kultur hätte ihn besser auf seine Aufgabe in der jüdischen Gesellschaft vorbereiten können. Weil er aus eigener Erfahrung die Spannungsfelder diverser Lebensphasen kannte, konnte er Menschen in seinem Umfeld, dem Kontext, in dem er sich bewegt hat, auch verstehen.
Ebenso nahm sich Paulus auf seinen Reisen Zeit, sich mit den Menschen, ihrer Kultur, ihren Werten und religiösen Ansichten zu befassen. Auch er wollte den Kontext verstehen, in dem sich Menschen bewegen. Er wollte die Befreiung von Sünde für sie verständlich vermitteln. In Athen besuchte er die Synagogen, begegnete Menschen auf den Marktplätzen, diskutierte mit Philosophen, traf sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Menschen. Auf diese Weise lernte er Menschen kennen und verstehen. Zudem wurden seine Gesprächspartner auf ihn und seine Sicht über das Leben aufmerksam. Diese Begegnungen führten dazu, dass Paulus eingeladen wurde, vor den Denkern zu sprechen. Einige lachten über ihn, während andere sich entschieden zu glauben.
Sowohl Jesus als auch Paulus war es wichtig, die Nachricht der Erlösung verständlich in ihr Umfeld und den jeweiligen Kontext hineinzutragen. Dafür verwendeten sie Bilder, Beispiele und Beschreibungen, die ihre Zuhörer verstanden. Sie übersetzten biblische Wahrheiten für einen bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine für die Menschen verständliche Sprache und Form. So erhielten die Menschen biblische Antworten auf ihre wesentlichen Fragen, selbst wenn sie diese Antworten und das Evangelium mitunter auch ablehnten.
Eine an den jeweiligen Kontext angepasste Form der Verkündigung war während der Ausbreitung des Evangeliums in der frühen Christengemeinde unumgänglich. Gleiches gilt für die Gegenwart. Kontextualisierung war und ist keineswegs nur auf die Sprache bezogen, sondern betrifft ebenso Bilder, Formen, Methoden und unser Verständnis der biblischen Botschaft (gegenwärtige Wahrheit). In einer uns umgebenden säkularen, nachchristlichen, kirchenfernen Gesellschaft ist eine Kontextualisierung unverzichtbar. Studien zeigen, dass der Mehrheit der in Westeuropa lebenden Menschen biblische Inhalte sowie die christliche Weltanschauung fremd sind.
Vielleicht fragst du dich, ob es nicht auch Gefahren und Grenzen in der Kontextualisierung der biblischen Botschaft gibt. Zwei Aspekte, die bedacht werden wollen:
Verschiedene Geschichten der Bibel zeigen uns deutlich, welche Folgen es nach sich ziehen kann, wenn der Mensch Anpassungen an sein Umfeld der Treue gegenüber Gottes Wort bevorzugt. Eine falsche Anpassung an die Kultur führt tendenziell zur Verwässerung des Evangeliums, zum Identitätsverlust der Kirche und zur religiösen Vermischung.
Eine andere Gefahr besteht in einer bewussten Abgrenzung und Verurteilung der Kultur, die uns umgibt, selbst der guten und wertvollen Elemente. Was nicht von Adventisten kommt, kann nicht gut sein. Leider führt diese Haltung zur Abschottung der Gemeinde von der Gesellschaft. Diese Trennung von unseren Mitmenschen führt dazu, dass sie den Wert der Glaubensgemeinschaft, die Kraft des Evangeliums und viele andere segensreiche Aspekte eines Lebens mit Gott nicht kennen lernen.
Wie die Redewendung schon sagt, kann man bei einem Pferd auf beiden Seiten herunterfallen. Dieses Spannungsfeld fordert uns dazu auf, die biblische Identität auf eine für Österreich kulturell relevante Weise lebendig und verständlich auszudrücken und dabei der Bibel treu zu bleiben.
BIBELTREUE KONTEXTUALISIERUNG
Ein erneuter Blick auf den Dienst von Paulus zeigt, wie er auf seinen Reisen um das Wort Gottes zu verkündigen nach Antiochia in Pisidien (Apg 13,13-43), Lystra (Apg 14,4-16) oder Athen (Apg 17,16-34) den Menschen in ihrem Kontext begegnet ist. Sein Vorbild zeigt uns, dass Kontextualisierung bewusst, ausgewogen, bibelorientiert und aktiv geschehen kann und muss. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen ...“ (1 Kor 9,22-23).
Bewusste kontextuelle Glaubensvermittlung bemüht sich in erster Linie um kulturelle Verständlichkeit, während der konfrontative Appell des Evangeliums bleibt. Jeder Mensch muss eine Entscheidung treffen – für oder gegen das Evangelium. Daran ändert sich nichts. Durch bewusstes Nachdenken über die kulturelle Denkart der Menschen (intuitive gesellschaftliche Hintergrundgeschichten, Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste und Bedürfnisse) werden Predigten, Bibelstunden oder Alltagsgespräche für unser Gegenüber verständlicher und relevanter. Der Heilige Geist zeigt uns, wie wir in unserer Interaktion mit unseren Mitmenschen gezielt auf Jesus als letztliche Erfüllung und Befreiung hinweisen können.
Selbst die Bibel wurde nicht kulturneutral geschrieben, auch wenn das Evangelium überkulturell ist. Unser christliches Zeugnis von der Erlösungsbotschaft in die gegenwärtige Gesellschaft verständlich hineinzutragen, bedarf tiefen Nachdenkens und ehrlicher Selbstreflexion. Es braucht eine ordentliche Portion Mut, um unsere eigenen gemeindekulturellen Ausdrucksformen wie Gottesdienstzeiten bzw. -ablauf, Durchführung des Abendmahls, Gebetsformen, wann und warum wir im Gottesdienst aufstehen, niederknien oder sitzen bleiben, usw. auf den Prüfstand zu stellen. Sind diese Formen heute noch hilfreich? Werden sie verstanden? Verstehen wir überhaupt selbst, warum wir tun, was und wie wir es tun? Können wir es anderen sinnstiftend und nachvollziehbar erklären? In vielen Bereichen unserer Gemeindekultur handelt es sich nicht um biblische Wahrheiten, sondern um tradierte Gewohnheiten. „Wir haben es immer so gemacht. Für uns ist es normal und daher richtig und wichtig.“ Gegen gute Gewohnheiten, Traditionen und Rituale ist nichts einzuwenden. Wenn sie jedoch sinnentleert vollzogen werden, welchen Zweck erfüllen sie dann? An manchen Orten führt ein bewusstes Hinterfragen unserer Gemeindekultur zu emotionalen Auseinandersetzungen, dem Empfinden, dass biblische Wahrheit angegriffen wird. Meist fehlt jedoch die Grundlage, sowohl in Gottes Wort als auch in den Schriften unserer Prophetin.
Es geht um eine gesunde Balance in der Kommunikation zwischen Kirche und Kultur (vgl. Apg 17,17). Nach unserem Bibelverständnis steht Gottes Wort über der Kultur unserer Gesellschaft. Dennoch sind wir als Kirche dazu aufgefordert, uns die Frage zu stellen, ob das, was wir bisher getan haben, noch hilfreich ist und Menschen dadurch erreicht werden können.
Der einfachste Weg, um auf unsere blinden Flecken aufmerksam zu werden, ist ein reflektierendes Gespräch mit Menschen, die erst einige Male bei uns im Gottesdienst waren. Was nehmen sie wahr? Was ist unklar? Was irritiert oder verunsichert? Was wird nicht verstanden?
Dieses interessierte Nachfragen kann uns auf blinde Flecken unserer Gemeinde- und Gottesdienstkultur aufmerksam machen. Wir sind gefordert, unser persönliches Bibelverständnis – nicht die Bibel selbst! – zu erweitern und mitunter auch zu korrigieren. Wir sollten daher keine Angst vor solchen Begegnungen haben, da sie uns vielmehr helfen, einerseits uns selbst vor dem Hintergrund der Bibel besser zu verstehen und andererseits für die Gesellschaft verständlicher und relevanter zu werden.
Die Bibel weist auf mindestens drei Aspekte hin, die eine biblische Kontextualisierung beschreiben können:
Kulturambivalenz: Jede Kultur weist gute und schlechte Aspekte auf (vgl. Rö 1-2). Für unser Handeln ist es daher notwendig, Gottes Fingerabdrücke in der allgemeinen Kultur zu erkennen, wertzuschätzen und zu fördern. Es wird uns auffallen, dass wir etliche Dinge bejahen können, während wir andere Elemente im Lichte der Bibel ablehnen und umgestalten müssen. Die oft intuitiv vorherrschende Haltung, traditionelle Kulturen seien biblisch und liberale säkulare Kulturen seien böse, ist ein verkürzter Trugschluss.
Kulturelle Flexibilität: Paulus dient uns als Beispiel, nicht auf die eigene kulturelle Gepflogenheit zu bestehen, sondern den kulturellen Stein des Anstoßes beiseitezulegen (1 Kor 8,9-12). Die Bereitschaft, sich dem Gegenüber anzupassen, ist ein Ausdruck der Liebe, um dem Ziel seiner Errettung näherzukommen (1 Kor 10,32-11,1). Deshalb sollten wir als Kirche dort um kulturelle Anpassung bemüht sein, wo uns die Bibel die Freiheit dazu gibt. Entschieden klar werden wir aber den Stein des Anstoßes betonen, nämlich das Kreuz Jesu Christi, das alle menschlichen Selbsterlösungsversuche zerbrechen kann. „Echte Kontextualisierung heißt, den Skandal an der richtigen Stelle zu verursachen und alle unnötigen Skandale zu vermeiden.“ (T. Keller).
Evangelistische Ausgeglichenheit: Paulus hat gelernt, den Anstoß und die Attraktivität des Kreuzes Jesu in einer kreativen Spannung zu halten. Während die Griechen nach Weisheit fragen, fordern die Juden Wunder. Paulus konfrontiert beide Auffassungen, indem er sie hinterfragt und in Jesus vollendet. Dabei bejaht er manche ihrer Hoffnungen und Werte, weist aber deutlich im Lichte des Kreuzes auf ihre intellektuelle bzw. werksgerechte Überheblichkeit hin.
Aktive Kontextualisierung geschieht dann, wenn wir uns darin üben, in unsere Kultur einzutauchen. An welchen kulturellen Ereignissen im Umfeld deines Wohnortes nimmst du bewusst teil? In welchen Vereinen bist du Mitglied, weil du Menschen begegnen und sie verstehen lernen möchtest? Zu welchen Menschen außerhalb der Gemeinde pflegst du Freundschaften, in denen du ganz natürlich über deine Beziehung zu Gott sprichst, sie an deinem Glaubensleben, deinen Erfahrungen und deinem Scheitern teilhaben lässt und zu einem Leben mit Jesus einlädst? Zuhören und verstehen lernen, aufrichtiges Interesse am Mitmenschen, Freundschaften bauen, das Evangelium kontextuell angemessen kommunizieren und Engagement für das Wohl der Menschen lassen uns Teil der Gesellschaft sein.
Gott will nach wie vor den Menschen aus seinem Chaos befreien. Jesus hat uns dazu berufen, dass wir mit ihm in diesem Befreiungswerk zusammenarbeiten. Das geht nur, wenn wir als Freunde, die das Wohl des anderen suchen, das unverfälschte Evangelium mit Menschen in deren jeweiligem Kontext verständlich teilen. Wer es hört, muss sich entscheiden. Die eine Gruppe wird uns auf Dauer aus dem Weg gehen, andere werden verstehen, Überzeugung entwickeln, sich für die Nachfolge entscheiden und im Glauben und Vertrauen auf die erlösende Macht des Kreuzes ihr Leben Gott übergeben. Und ihre Erfahrung wird ihnen helfen, wiederum andere in ihrem Kontext zur Nachfolge einzuladen. Wir müssen mit den Menschen leben und dürfen mit Paulus sagen: „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen ...“ (1 Kor 9,22-23).
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