Veränderung der Gemeinde beginnt bei mir! Bitte Gott um einen neuen Blickwinkel auf dein Leben und lass den Heiligen Geist an dir wirken.
19.11.2024 | Reinhard Schwab
Wir in dieser Welt: Ein neuer Blickwinkel
Dieser Artikel ist erstmals im Adventisten Aktuell (Ausgabe 173) erschienen.
Die österreichische Kultur
Ein kurzer Blick auf die österreichische Seele zeigt – Österreich ist eine Kulturnation. Kunst und Musik, Tradition und Brauchtum haben für die Menschen hierzulande einen hohen Stellenwert. Typisch ist ebenso die österreichische Geselligkeit und Gemütlichkeit. Gemäß einer Wertestudie der Universität Wien aus dem Jahr 2017¹ sind den Österreichern die Werte Humanismus (90 %, Hilfsbereitschaft, Wohlergehen anderer, treue Freunde), Selbstbestimmung (89 %, Kreativität, eigenen Weg, Autonomie) und Sicherheit (81 %, Risiko vermeiden; starker Staat, der beschützt) besonders wichtig.
Die drei wichtigsten Lebensbereiche der Österreicher sind Familie, Freizeit und Freunde. Religion ist nur für 11 % der Befragten bedeutend und hat damit sehr wenig Relevanz.
Für die Zukunft wünschen sich die Österreicher das Unterbinden von religiösem Extremismus (80 %), ein friedvolles Zusammenleben (78 %), den Zugang zu Bildung (77 %), Umweltschutz (75 %) und Gesundheitsversorgung für alle (69 %). Große Sorge herrscht über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Österreich.
Neben der bereits erwähnten Gemütlichkeit und vordergründigen Weltoffenheit stößt man auch auf Schattenseiten der österreichischen Mentalität. In (linken) Fachkreisen wird die Seele der Nation unter anderem als rassistisch und nationalistisch demaskiert. Im 20. Jahrhundert sprach man von den „Neurosen“ der österreichischen Psyche wie z. B. Verharmlosung von Konflikten, Scheinlösungen und faule Kompromisse. Österreich sei eine „Verdrängungsgesellschaft“ und habe nicht gelernt, über unbewältigte Gefühle zu sprechen.
DER GRÖSSERE BEZUGSRAHMEN: DIE WESTLICHE MODERNE
Um den Blick auf unsere österreichische Kultur weiter zu schärfen, ist es entscheidend, die Merkmale unserer übergeordneten westlich-modernen Kultur zu erfassen.
Die „Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts glich einer Initialzündung, die in Europa zu einem starken Bewusstseinswandel führte. Ganze Völker erlebten eine „Bekehrung“ hin zu einem neuen Erklärungsrahmen der Wirklichkeit. Mit dem Ende des mittelalterlich-kirchlichen Verständnisses, dass alle Ereignisse der Natur ihre Bestimmung im göttlichen Kosmos hätten, entstand aber auch ein Vakuum. Die Vorstellung göttlicher Bestimmung, ja Gott selbst, mussten den Gesetzen von Ursache und Wirkung weichen. Die Deutungshoheit liegt seitdem in der Hand der Wissenschaft, oder anders ausgedrückt, in der „Vernunft des Menschen“. Hier ist kein Raum mehr für göttliche Offenbarung, menschliche Bestimmung oder gar kirchliche Tradition. Im Zentrum stehen das Individuum und mit ihm die „Menschenrechte“. An der Stelle von Gott sollen nun die Natur und der Nationalstaat des Menschen Glück, Gesundheit und Zufriedenheit sichern.
Dieses neue Weltverständnis hat alle Lebensbereiche der westlich geprägten Menschen verändert. Die Folge ist ein seltsames Unbehagen, das sich im Leben bemerkbar macht. Denn einerseits müht sich der Einzelne für seine persönlichen Ideale, Werte und Ziele ab – beides eng verknüpft mit der Sinnfrage – während die moderne Wissenschaft andererseits der Menschheit glaubhaft machen will, dass alles Sein und Handeln ziellos sei. Diese Kluft zeigt sich (1) in der Trennung des Lebens in einen öffentlichen und privaten Bereich und (2) in der Trennung von sogenannten „Tatsachen“ und „Werten“. Dies vertieft auch laufend die Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft. Düstere Prognosen sehen das sichere Ende der Kirche kommen. Dabei fällt nicht selten das Wort „Säkularisierung“.
SÄKULARISIERUNG
Es wird oft behauptet, die Säkularisierung sei ein „Zeitalter des Unglaubens“. Wenn wir jedoch genauer hinsehen, erkennen wir: Es handelt sich vielmehr um ein „Zeitalter des veränderten Glaubens“. In einer pluralistischen Weltanschauung ist der Gottesglaube nur noch eine Option unter vielen. Hinzu kommt, dass das heutige Denken stark von den teilweise egoistisch gelebten Werten „Authentizität“ und „Individualismus“ geprägt ist. Glaube wird beliebig und jeder stellt sich selbst individuell wie aus einem Baukasten seine Weltvorstellung und Lebensdeutung zusammen. Die persönliche Selbstverwirklichung steht im Mittelpunkt, und mit dem Verlust des Glaubens an Gott und der Hoffnung auf ein besseres Jenseits macht sich Leere und ein Gefühl der Sinnlosigkeit breit.
GEMEINDE
Neben den kulturellen Aspekten der allgemeinen Gesellschaft gilt es ebenso, den bestehenden kulturellen Kontext unserer Kirche bei der strategischen Ausrichtung zu berücksichtigen. Unsere Gemeinschaft sieht seit ihrer Gründung die Verkündigung der Botschaft der drei Engel aus Offenbarung 14 und der baldigen Wiederkunft Jesu als ihre zentrale Aufgabe. Hinzu kommt das Selbstverständnis, die Kennzeichen der prophetischen Gemeinde der Übrigen zu erfüllen. Zusammengefasst wird dies in der Glaubensüberzeugung Nr. 13:
„Die weltweite Gemeinde setzt sich zusammen aus allen, die wahrhaft an Christus glauben. Doch in der letzten Zeit, einer Zeit weit verbreiteten Abfalls, ist eine Schar der Übrigen herausgerufen, um an den Geboten Gottes festzuhalten und den Glauben an Jesus zu bewahren. Diese Übrigen weisen darauf hin, dass die Stunde des Gerichts gekommen ist. Sie predigen, dass es Erlösung allein durch Christus gibt, und verkündigen das Herannahen seiner Wiederkunft. Die drei Engel in Offenbarung 14 sind Sinnbild dieser Verkündigung. Sie geht einher mit dem Gerichtsgeschehen im Himmel und führt auf Erden zu einer Bewegung der Buße und Erneuerung. Jeder Gläubige ist aufgefordert, sich an diesem weltweiten Zeugnis persönlich zu beteiligen.“
Auf der Basis dieser Überzeugung waren die Bemühungen unserer Kirche, Menschen mit der frohen Botschaft zu erreichen, von Beginn an von einer dogmatisch ausgerichteten Verkündigung geprägt, die zum Ziel hatte, durch das Vermitteln von biblischen Wahrheiten Menschen für die Nachfolge Jesu und den Beitritt zur Adventgemeinde zu bewegen. Darüber hinaus ist unsere Kirche bis heute von der Haltung einer dogmatischen Abgrenzung zu anderen christlichen Religionsgemeinschaften (nach dem Motto „Wir haben die Wahrheit“), aber auch einer moralischen Abgrenzung zur Gesellschaft (oder auch „der Welt“) geprägt. Diese Abgrenzung wirkt sich auch auf den Lebensalltag der Gemeindeglieder aus, indem sich die Lebensbereiche voneinander lösen (z. B. Glaube und Gemeinde einerseits und Arbeit/Schule/Studium andererseits). Es zeigt sich, dass zahlreiche Gemeindeglieder nur wenig engere Kontakte und Beziehungen zu Menschen außerhalb der Gemeinde haben und zurückhaltend, vorsichtig und manchmal sogar ängstlich bei Aufbau und Pflege von solchen sind. Oftmals fehlen die geeignete Sprache und Sicherheit, um geistliche Inhalte an Menschen außerhalb der Gemeinde natürlich und für sie verständlich zu kommunizieren.
Die starke Identifikation unserer Mitglieder mit den adventistischen Glaubensüberzeugungen ist hingegen positiv hervorzuheben, und das im Vergleich sowohl zu anderen Kirchen in Österreich als auch zu Adventgemeinden in anderen Ländern. Man kann in dieser Hinsicht die Adventgemeinde Österreich als konservativ im positiven Sinne betrachten. Weiters ist auch die Wichtigkeit der Verkündigung der Heilsbotschaft stark verankert, zumindest auf einer Wissens- und Überzeugungsebene. Andererseits entsteht dadurch auch manchmal ein Pflichtgefühl, das zum primären (negativen) Antreiber wird.
Das zentrale verbindende Element in unserer Kirche ist der Gottesdienst am Sabbatvormittag. Durch diesen wird in Anbetracht der Qualität des Programms und der Anzahl der Besucher auch meist (implizit) der Zustand einer Gemeinde abgeleitet. Dabei wird der Gottesdienst selten als Gelegenheit verstanden, Gäste zu erreichen (durch eine gästefreundliche Gestaltung und Sprache), und bei seiner Gestaltung großer Wert auf eine korrekte Form und Liturgie gelegt (z. B. hinsichtlich des Ablaufs oder der Musik). Gleichzeitig sind die Aktivitäten unserer Gemeinde oft aber auch auf diese Zeit beschränkt, und es gibt abseits davon wenig bzw. immer weniger gemeinschaftliche Aktivitäten. Es lässt sich beobachten, dass die Bereitschaft zum Engagement von Gemeindegliedern, sei es im Gottesdienst oder darüber hinaus, seit geraumer Zeit abnimmt und wie allgemein in der Gesellschaft einem stark individualistischen und nutzenbasierten Zugang weicht.
Neben den individuellen und persönlichen Bemühungen von einzelnen Gemeindegliedern greift unsere Kirche in Österreich bei ihren Bemühungen das Evangelium zu verkündigen seit Jahrzehnten auf ähnliche und auch lange Zeit bewährte Methoden zurück. Diese bestehen meist aus Aktivitäten wie das Verteilen von Literatur, die Veranstaltung von Vorträgen und Seminaren zu Gesundheits- und Bibelthemen (oft auch aufeinander aufbauend) oder auch das Abhalten von durch Lehrpunkte geprägten Evangelisationsreihen. Überwiegend weist die Planung dieser Aktivitäten jedoch aktionistische Züge auf. Ihnen liegt oftmals weder ein strategischer Plan noch die Überlegung eines Jüngerschaftsprozesses zugrunde. Zudem ist das Ziel dieser Bemühungen stets, dass Menschen aus der Gesellschaft („der Welt“) in die Gemeinde kommen. Nur selten ist es unser Bestreben, als Gemeinde auf die Menschen in der Gesellschaft zuzugehen und als Teil der Gesellschaft ihr zum Segen zu werden.
Diese langjährige Herangehensweise konnte seit Beginn der 2000er nicht mehr an die Erfolge der vorherigen Jahrzehnte anknüpfen. Während Menschen im 20. Jahrhundert einerseits durch die Methodik von Vorträgen und Seminaren, als auch durch das Verkündigen der biblischen Wahrheit andererseits erreicht und gewonnen werden konnten, zielen unsere Angebote mittlerweile auf Fragen und Bedürfnisse ab, die Menschen heute kaum noch haben. Durch den mangelnden messbaren Erfolg der letzten beiden Jahrzehnte hat sich daher eine gewisse Frustration und Unsicherheit hinsichtlich unserem Auftrag, das Evangelium zu verkünden, innerhalb unserer Kirche entwickelt. Während trotz ausbleibender Resultate zunächst weiter derartige Aktivitäten und Programme durchgeführt wurden, hat sich mittlerweile eine gewisse Resignation, Überforderung und Planlosigkeit eingestellt. Trotz zahlreicher Bemühungen, ein methodisches Umdenken hin zu persönlichen Beziehungen, Kleingruppen und Jüngerschaftsprozessen als Ansätze zu bewirken, konnten diese Elemente nur begrenzt in den Gemeinden etabliert werden, und zwar weder im Denken noch im Tun, zumal diese Ansätze keine raschen, messbaren Erfolge (sprich Taufen) bringen.
DER PRIVATE BEREICH
Wenn wir uns die österreichische Kultur, den Einfluss der westlichen Moderne, eine zunehmende Säkularisierung und unsere gelebte Gemeindekultur vor Augen führen, werden wir möglicherweise feststellen, dass uns diese Schilderungen bekannt vorkommen. Diese Beobachtungen geben uns die Möglichkeit, einen neuen Blickwinkel einzunehmen, wenn es um die Frage geht, wie wir Menschen mit dem Evangelium heute wieder erreichen können. Offenbar ist es in erster Linie der private Bereich. Der Ort, an dem die persönlichen Ideale, Werte und Ziele des Einzelnen – verknüpft mit der Sinnfrage – entwickelt und gelebt werden. Der Ort, an dem persönliche Beziehung gepflegt, Vertrauen wachsen und geistliches Wachstum gefördert werden kann. Deine Mitmenschen möchten in deinem Leben erkennen können, wie dein tägliches Leben mit Gott Positives bewirkt. Sie suchen in erster Linie nach einer realen Erfahrung, nicht nach theoretischen Denkmodellen und theologischen Überzeugungen.
Schon 1886 hat Ellen White über unseren Auftrag in Europa Folgendes geschrieben: „Es ist schwer, an die Menschen heranzukommen. Der einzige Weg, um erfolgreich zu sein, ist, dass wir Bibellesungen durchführen, und auf diesem Wege das Interesse in einem oder zweien oder dreien geweckt wird.“ Brief Nr. 44, 1886 (Evangelisation, S. 377)
„Wie kann das große Werk der dritten Engelsbotschaft durchgeführt werden? Es muss hauptsächlich durch ausdauernde, persönliche Mühe und durch Besuchen der Menschen in ihren Heimen geschehen.“ Historical Sketches, S. 149.150, 1886 (Evangelisation, S. 378) „Sie sollten den Leuten nahekommen, mit ihnen an ihren Tischen sitzen ...“ Historical Sketches, S. 148, 1886 (Evangelisation, S. 389)
Wenn etwas nicht funktioniert, verweisen wir gerne auf andere und erwarten von ihnen die entscheidende Veränderung. Eine ehrliche Selbstreflexion unseres eigenen Glaubenslebens jedoch fordert uns auf, einen neuen Blickwinkel einzunehmen. Veränderung der Gemeinde beginnt bei mir! Gottes Handeln in meinem Lebensalltag für meine Mitmenschen sichtbar werden zu lassen, das können weder mein Gemeindeleiter, der Pastor noch die Unionsmitarbeiter übernehmen. Es beginnt mit meiner Entscheidung. Bitte Gott um einen neuen Blickwinkel auf dein Leben und lass den Heiligen Geist an dir wirken.
¹ Verwiebe, Roland 2017. Welche Werte sind den ÖsterreicherInnen wichtig? Wien.
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